Veranstaltung: | Landesparteitag Schleswig-Holstein September 2023 |
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Tagesordnungspunkt: | 5 Anträge |
Antragsteller*in: | Catharina Johanna Nies / Kerstin Hansen (KV Ostholstein / KV Dithmarschen) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 24.08.2023, 14:49 |
A13: Kinder stärker in den Blick nehmen - Häusliche Gewalt und Kinderschutz muss in Sorge- und Umgangsverfahren konsequenter berücksichtigt werden
Antragstext
Frauen sind weiterhin unverhältnismäßig stark von häuslicher Gewalt in
Partnerschaften betroffen. Die Zahlen des BKA im Bundeslagebild zur häuslichen
Gewalt im Jahr 2022[1] belegen einen weiteren Anstieg der dokumentierten Fälle.
Kinder sind als Zeug*innen der Partnerschaftsgewalt immer mit betroffen. Das
Miterleben häuslicher Gewalt ist für die Kinder und Jugendlichen mit erheblichen
Belastungen verbunden, die in vielen Fällen zu Entwicklungsbeeinträchtigungen im
kognitiven, emotionalen und sozialen Bereich führen.
Dies ist nicht hinnehmbar!
Bündnis 90/ DIE GRÜNEN Schleswig-Holstein setzt sich dafür ein, der körperlichen
und psychischen Gewalt an Frauen und Kindern entgegenzuwirken und das
Hilfesystem zu stärken.
Als GRÜNE haben wir uns den Schutz von Frauen und Mädchen durch die konsequente
Umsetzung der sog. Istanbul Konvention auf allen politischen Ebenen zur Aufgabe
gemacht. Hierzu gehören das Erkennen und Abbauen von institutionalisierten
Strukturen, die Gewalt fördern oder ermöglichen. Ein wichtiger Schritt, um
gefährliche Gewaltspiralen zu durchbrechen ist die konsequente Berücksichtigung
von häuslicher Gewalt in sorge- und umgangsrechtlichen Entscheidungen.
Gesetzlich muss klargestellt werden, dass dies dem Kinderschutz dient. Hier ist
eine Reform auf Bundesebene notwendig, die vom Land Schleswig-Holstein
unterstützt und vorangetrieben wird.
Wir erkennen an, dass im Haushalt lebende Kinder und Jugendliche von häuslicher
Gewalt immer mitbetroffen sind. Das gilt auch dann, wenn sich die Gewalt nicht
direkt gegen sie wendet.
Alle an familiengerichtlichen Verfahren Beteiligte, stehen im Fall von
häuslicher Gewalt demnach vor der schwierigen Aufgabe, die Vorgaben des
Kindschaftsrechts umzusetzen und gleichzeitig die besondere Situation bei Gewalt
zwischen Elternteilen und deren Folgen für das Kindeswohl zu berücksichtigen.
Diese Abwägung muss den Schutz des Kindes und des gewaltbetroffenen Elternteils
an die erste Stelle stellen. Die Umgangsentscheidung muss beide aus der
Gefahrenzone bringen!
Die rechtlichen Rahmenbedingungen müssen in diesen Fällen dem körperlichen,
psychischen und seelischen Schutz vor Gewalt Vorrang einräumen. Es ist unbedingt
zu vermeiden, dass für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen und ihre
mitbetroffenen Kinder durch richterliche Anordnungen zum Umgang das Risiko
zusätzlicher körperlicher oder seelischer Gewalt erhöht wird.
Auch wenn im Normalfall die Leitbilder eine gemeinsame elterliche Verantwortung
sowie das kindliche Recht auf Umgang mit beiden Elternteilen sein sollen, muss
hier bei häuslicher Gewalt differenziert werden. Hier muss der Schutz des Kindes
sowie des gewaltbetroffenen Elternteils regelhaft Priorität haben. Dies darf
keine richterliche Einzelfallentscheidung sein.
Bündnis 90/ Die Grünen Schleswig-Holstein fordert Bund und Land deshalb auf sich
für folgende Maßnahmen einzusetzen:
Das Miterleben von Partnerschaftsgewalt ist grundsätzlich als gewichtiger
Anhaltspunkt für eine Kindeswohlgefährdung einzuschätzen.
Hierzu braucht es eine Reform des Kindschaftsrechts, die häusliche Gewalt von
der Regelvermutung ausnimmt, dass Umgang und gemeinsame elterliche Sorge dem
Kindeswohl dienen. Gesetzlich muss klargestellt werden, dass das Gebot
Einvernehmen zwischen den Eltern herzustellen in diesen Fällen dem Kindeswohl
nicht dienlich ist. Aufklärung des Gewaltgeschehens und fortbestehender Gefahren
(Amtsermittlungspflicht) müssen Vorrang vor einer einvernehmlichen Regelung
haben.
Zur Vermeidung von Rückschlüssen auf den Aufenthaltsort des betreuenden
Elternteils sollte ein Wahlgerichtsstand geschaffen werden.
GRÜNE Schleswig-Holstein unterstützen die Reformbestrebungen auf Bundesebene und
werden sich im Sinne der oben genannten Punkte für eine schnelle und umfängliche
Umsetzung stark machen.
Im Sinne einer verbesserten Begleitung und Schutz der mitbetroffenen Kinder bei
häuslicher Gewalt setzt sich Bündnis 90 / DIE GRÜNEN Schleswig-Holstein ein für:
- die Umsetzung der Forderungen im Empfehlungspapier der AG 35 zum
Schutz von Kindern bei häuslicher Gewalt[2]
- die Umsetzung der Forderungen im Empfehlungspapier der AG 35 zum
- die Einführung eines pro-aktiven und professionellen Beratungs- und
Begleitangebotes für von Partnerschaftsgewalt mitbetroffene Kinder;
hierbei soll geprüft werden, wie dieses ergänzend bzw analog zu der
sog. 201a-Beratung für von häuslicher Gewalt betroffene erwachsene
Personen, verankert im Landesverwaltungsgesetz, aufgebaut werden
kann.
- die Einführung eines pro-aktiven und professionellen Beratungs- und
- Verbesserung der Rahmenbedingungen für Richter*innen und
Staatsanwält*innen u.a. durch eine Berücksichtigung von
Vernetzungsaktivitäten in der Personalbemessung. So soll ihre
Teilnahme an den KIK- Netzwerken und dem Hochrisikomanagement
sichergestellt werden.
- Verbesserung der Rahmenbedingungen für Richter*innen und
- verpflichtende Kenntnisse über häusliche Gewalt für Jugend- und
Familienrichter*innen (entsprechend § 23b Abs. 3 GVG)
- verpflichtende Kenntnisse über häusliche Gewalt für Jugend- und
- Eine stärkere Sensibilisierung des Fachpersonals im Jugendamt durch
regelmäßige Fortbildungen für alle Beschäftigten
- Eine stärkere Sensibilisierung des Fachpersonals im Jugendamt durch
- Die Verankerung des Themas häusliche Gewalt und Istanbul Konvention
in der Ausbildung von Sozialarbeiter*innen und Jurist*innen.
- Die Verankerung des Themas häusliche Gewalt und Istanbul Konvention
Begründung
Die Istanbul Konvention, die Europaratskonvention „Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ vom 11. Mai 2011 ist per Gesetz[1] zum 01. Februar 2018 in Deutschland in Kraft getreten und somit rechtlich bindend.
Artikel 31 der Europaratskonvention legt fest, dass häusliche Gewalt bei Entscheidungen über das Besuchs- und Sorgerecht betreffend Kinder berücksichtigt werden muss und der hierfür erforderliche Rechtsrahmen von den Vertragsstaaten erlassen wird. Hier müssen Maßnahmen und Standards mit aller politischen und behördlichen Konsequenz ausgebaut und umgesetzt werden.
Es heißt hier weiter, dass staatlich sicherzustellen ist, dass die Ausübung des Besuchs- oder Sorgerechts die Rechte und die Sicherheit der Kinder und eines gewaltbetroffenen Elternteils bzw einer gewaltbetroffenen sorgeberechtigten Person nicht gefährden darf.
Damit stehen sich die Vorgaben der Istanbul Konvention und der Grundsatz des gemeinsamen Umgangsrechtes gegenüber. Die bisherige Rechtslage in Deutschland fokussiert auf das Recht auf Umgang mit beiden Elternteilen. Hierbei wird nicht differenziert. Weder wird konkretisiert, dass elterliche Beziehungen, in denen Gewalt vorgekommen ist nicht mehr vertrauensvoll und partnerschaftlich sein können. Noch eingeschränkt, dass Kinder von Gewalt an einem Elternteil grundsätzlich mitbetroffen sind und hiervon traumatisiert sein können, mit weitreichenden gesundheitlichen Folgen.
Artikel 26 der Istanbul Konvention zum Schutz und Unterstützung für Zeug*innen, die Kinder sind, legt fest, dass es angemessene (altersgerechte psycho-soziale) Schutz- und Unterstützungsangebote für Kinder geben muss. Diese müssen auch in Deutschland ausgebaut und umgesetzt werden.
Sowohl der GREVIO-Evaluationsbericht für Deutschland von 2022 zur Umsetzung der Istanbul Konvention als auch der Bericht der UN-Sonderbeauftragten zu Gewalt gegen Frauen, Reem Alsalem belegen, dass das Ziel des Gewaltschutzes noch nicht mit dem deutschen Umgangsrecht korrespondiert.
Frauenhäuser, Frauenberatungsstellen und die Netzwerke zum Thema Häusliche Gewalt (KIK) in Schleswig-Holstein berichten unermüdlich aus ihrer Praxis, dass die familiengerichtlichen Verfahren betroffene Frauen und Kinder stark belasten. Nicht selten werden durch Umgangsregelungen mit einem gewalttätigen Vater Kontakt- und Näherungsverbote ausgehebelt.
Diese Umgangskontakte sind im Kontext von Häuslicher Gewalt eine psychische Belastung, sorgen bei jeder Absprache für Macht- und Gewaltpotential und können bei den Übergaben zu neuen Gewalthandlungen führen. In Verfahren werden dem Täter zum Teil neue Wohnadressen der Betroffenen bekannt. Durch die Organisation von Umgangskontakten werden gewaltbetroffene Frauen dazu gezwungen, dem Täter gegenüberzutreten, die Gewalt immer wieder seelisch zu durchleben. Sie werden so über Jahre in einer Gewalt-Angst-Spirale gehalten anstatt für sich und ihre Kinder ein neues gewaltfreies Leben ohne Angst und in Eigenständigkeit aufzubauen.
Kinder sind mindestens als Zeug*innen der Partnerschaftsgewalt immer mit betroffen. Das Erleben häuslicher Gewalt ist für die Kinder und Jugendlichen mit erheblichen Belastungen verbunden, die in vielen Fällen zu Entwicklungsbeeinträchtigungen im kognitiven, emotionalen und sozialen Bereich führen.
Insbesondere, wenn sich die Gewalt nicht direkt gegen die Kinder gerichtet hat, werden die Auswirkungen des Miterlebens von Gewalt auf das Kindeswohl immer wieder unterschätzt und bleiben bei Jugendämtern und in den familiengerichtlichen Verfahren unberücksichtigt.
Das Risiko erneuter Gewalt bis hin zur Tötung ist am größten, wenn die Frau sich aus einer Gewaltbeziehung gelöst hat. Nicht selten finden Tötungsdelikte bei der Übergabe des Kindes an den Vater statt oder es kommt im Zuge gerichtlicher Verfahren und begleitetem Umgang zu Kontakt, der dem Täter ermöglicht erneut Gewalt auszuüben. Diese Gefährdungssituation wird von den an familiengerichtlichen Verfahren Beteiligten noch nicht ausreichend erkannt und berücksichtigt.
Liegt häusliche Gewalt vor, ist die Beziehung zwischen Gewalttäter und seiner Partnerin dysfunktional. Der eine übt Macht aus, die andere ist oftmals in Ohnmacht gefangen. Es ist davon auszugehen, dass der gewalttätige Elternteil sich wiederholt und über einen längeren Zeitraum die Grenzen von Partnerin und Kind überschritten hat und ihnen körperliche wie seelische Verletzungen zugefügt hat. Von einer partnerschaftlichen Beziehung auf Augenhöhe zwischen den Eltern kann also nicht ausgegangen werden. Damit einher geht, dass auch die Kooperationsfähigkeit stark eingeschränkt ist. Beratung und einvernehmliche Konfliktlösung sind hier ggf. unrealistisch.
[1]Gesetz zu dem Übereinkommen des Europarats vom 11. Mai 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 17. Juli 2017.
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Marcel Beutel: